1969-84

JUGENDBEWEGUNG
- Politische Jugendbewegung 1969-1984
in den Kleinstädten
der Region Mainfranken, Tauberfranken,
Badisches Frankenland, Württembergisch Franken,
Hällisch-Franken und Franken-Hohenlohe -

DIE POLITISCHE
JUGENDBEWEGUNG

Störfaktor Jugend

Das in der Vergangenheit immer schwankende Kleinbürgertum der Kleinstädte hatte sich seit Ende der 1960er Jahre klar für die Stadtseite entschieden und die Aufstiegs-Parole ausgegeben: "Nie mehr Provinz !" Es war aber sichtlich erschrocken, als es für diese entschiedene Aussage von völlig unverhoffter Seite Beifall und Bestätigung bekam. Auch die inzwischen rebellierende Kleinstadtjugend wollte nichts anderes als "raus aus der muffigen Provinz". Diese ohne eigenes Zimmer, in muffigen Schulstuben und Turnvater-Jahn-gedrillten Sportvereinen großgewordene Kleinstadtjugend, forderte aus tiefster innerer Überzeugung und Bedürftigkeit eine "Freizeit ohne Kontrollen" für sich. Weltläufigkeit statt Provinzialismus, Hoffnungslichter statt kleinstädtische Dunkelheit, Gestaltungsweite statt einschnürende Enge, war ihr Sehnen. Sie lagen mit ihren Forderungen eigentlich im Trend der Zeit, aber wurden damals nicht so verstanden. Das modern-denkende Kleinstadtbürgertum hatte ihre Modernisierungsstrategie nicht als Revolte gegen das Kleinstädtertum der Provinz, sondern als sachter, wirtschaftsliberaler Progressivismus verstanden. Der stattfindende Häuserabriß sollte nicht als Abrißaufforderung der alten ideologischen Kleinstadtmauern mißverstanden werden. Die Belichtung der Kleinstadtkerne sollte nicht der freien Sicht des Sonnenaufgangs unter roten Fahnen dienen. Und der Aufruf zum Konsum nicht als Konsum für bewußtseins-erweiternde Schriften, Drogen und Sinneserfahrungen umgedeutet werden.

Mitten in der zaghaften Modernisierung zeigte das kleinstädtische Honoratiorentum in diesem Jugendkonflikt sein altes kleinstädtisches Gesicht, denn es war bis ins Mark erschüttert, als die Unruhestifter nicht mehr kleinstadtgerecht von Außen als "vermeintliche Rädelsführer" kamen, sondern aus dem Innern der wohlgehüteten Kleinstadtgesellschaft: Es waren Lehrer-, Pfarrer- und Ärztekinder, aber auch die hoffnungsvollen Sprößlinge aus den kleinstädtischen Arbeitervierteln und die neue Bildungselite aus den Dörfern, die hier antrat, um sich in den großen Prozess der "Entprovinzialisierung Deutschlands nach 1945" einzubringen. Die Schülerbewegung hatte auch die Kleinstädte erfaßt und dort in der kleinen Stadt die Rolle der Studentenbewegung übernommen. Nach dem ersten Schock über den Aufstand von Innen folgte die offene Repression: In Leserbriefen wurde die Aufstellung von Bürgerwehren ernsthaft in Erwägung gezogen. Die Schuldirektoren und konservative Elternkreise riefen öffentlich zur Beendigung der "Diskussionsseuche", die auch die Kleinstadt befallen habe, auf. Eltern drohten ihren Kindern mit allen nur denkbaren Mitteln wie Hausarrest, Fernsehverbot, der Drohung sie von der Schule zu nehmen etc., um die Revolte im eigenen Heim zu ersticken. Alle diese Versuche scheiterten, denn den Jugendlichen war es wirklich ernst. Sie waren nicht - wie die Eltern so selbstentschuldigend meinten - "verführt" worden, sondern hatten an einem echten, tiefsitzenden Unbehagen und Bedürfnis angesetzt. Die Folge dieser verhärteten Fronten war ein jahrelang dauernder Stellungskrieg zwischen beiden Fraktionen, der nicht selten drei Bewegungsphasen (die Schülerbewegung, die Lehrlingsbewegung und die Jugendzentrumsbewegung) durchlief und erst in den 1980er Jahren zu einem Ende kam.

Im Nachhinein betrachtet war dieser Kleinstadtkampf vielleicht so unerbittlich und langlebig, weil er im Grunde auf parallel-verlaufendem, aber an sich gleichem Modernisierungsboden stattfand. Die Jugendrevolte der Kleinstädte forderte die sozio-kulturelle Ent-Provinzialisierung der Kleinstadtwelt, während das moderne Kleinstadtbürgertum primär eine ökonomische, bauliche und räumliche Ent-Provinzialisierung der Kleinstädte forderte. Daß die Jugendrevolte damit quasi nur das sozio-kulturelle Gegenstück für die sich bereits nach sozio-ökonomischer Veränderung streckende und damit schon teilweise überdehnende Kleinstadt war, wurde damals in der Blindheit der Positionen nicht gesehen. Die Promotoren der neuen Kleinstadtkultur aus der Geschäftswelt wollten eine Veränderung des Business ohne Unruhe im Stadtbild. Ihr großstädtisches Kleinstadtvorbild sollte das Kaufhaus sein, ohne sich damit gleich den vermeintlichen Kaufhausbrandstifter einzuhandeln. Das neue Kleinstadtzentrum sollte das Geschäftszentrum und nicht das verkehrsberuhigte Aufmarschfeld der Protestjugend werden. Die eingeschlagene Strategie war klar: Abdrängung der Kleinstadtprotestierer an den Stadtrand. Verbannung der Jugend aus der geschäftigen Stadtmitte. Verdrängung des Themas aus der öffentlichen Debatte.

Und so kam es auch: In einer konzertierten Aktion von Stadtplanung, Gewerbetreibenden und kleinstädtischen Ordnungskräften wurde das "Jugendproblem" an den Stadtrand verbannt, indem der rebellierenden Jugend dort eine leerstehende Halle oder ein für den Abriß vorgesehenes Gebäude als vorübergehende Bleibe und erhoffte Pleite angeboten wurde. Die revoltierende Kleinstadtjugend wurde damit zu dem gemacht, was man von ihr schon immer gedacht hatte: Zu einer kleinstädtischen Randgruppe, die nun ihren "verdienten" Ort bekommen und bezogen hatte. Mit der Entsorgung des Unruheherdes an den vermeintlichen Rand der Kleinstadtgesellschaft, war nun die Innenstadt wieder frei für die nächste Stufe der fortschreitenden Sanierung und Modernisierung. Diese erfolgte subtil, aber in der Sache kompromisslos. Der große Kehraus der Geschichte Ende der 1970er Jahre umfaßte nicht nur die alten Landecken im Stadtbild, sondern auch die neuesten "Schandflecken der Jugendrevolte". "Gammler raus!" aus dem öffentlichen Raum, war das Ziel dieser Straßenräumaktion. Der Marktbrunnen sollte wieder den Touristen gehören und nicht weiter "vergammeln". Die beliebten Gammlersitzstufen vor den Geschäften wurden abgerissen und durch ebenerdige gläserne Großeingänge mit selbstöffnenden Schiebetüren ersetzt. Das alte Verkehrsschild, das durch seine praktische Höhe zum "Abhängen" verleidete, wurde mit der Einführung der Fußgängerzone demontiert. Und auch die wenigen noch freien Stehzonen fielen den überall herumstehenden Ständerauslagen der Einzelhandelsgeschäfte und dem gestiegenen Raumbedarf der neuen Sitzcafes zum Opfer. Die wenigen als Ersatz aufgestellten Bänke ohne Rücklehne sollten das längere Herumsitzen unbequem machen und auch die bewußt mit stacheligem Grünzeug bepflanzten Waschbetonkübel machten jegliches Herumlungern ungemütlich. Das Reich der Innenstadt wurde in neue Funktionscluster aufgeteilt und der Kommerz hatte gesiegt.

Die Reste der Jugendrevolte zogen sich in die Stehcafes von Tschibo und Eduscho, quasi in die Frühformen der späteren McDonald-Ära, und in die wenigen Scene-Kneipen oder ihr abgelegenes Jugendzentrum, zurück. Mit dieser Lage - im Doppelsinn des Wortes - konnte nun auch die offizielle Stadtpolitik und Kleinstadtöffentlichkeit gut leben. Die Sozialraumverdrängung einer unliebsamen Gruppe hatte geklappt. Der "Störfaktor Jugend" wurde sozialräumlich gezähmt und mit der "Versozialpädagogisierung" der Jugendhäuser durch die Einstellung von Sozialpädagogen in den 1980er Jahren endgültig entschärft.

 

Politische Aufbrüche

Der politische Aufbruch der Kleinstädte erfolgte ab Mitte der 1960er Jahre durch den Einbruch der Jugendrevolte und Popkultur in die bis dahin so abgeschirmte Provinz. Ein überall in den Kleinstädten spürbares "Hinausweh" (Matthias Claudius) als Teilhabe an einer weltweiten Jugendrevolte, sollte die angestaubten Abitursfeiern, die ausbeuterischen Kleinbetriebe und die frustrierenden Eisdielen vergessen machen: Frischer Wind sollte durch die engen Kleinstadtgassen wehen, die dort stehengebliebene Stickluft der 1950er Jahre vertreiben und den "Luftzug der neuen Zeit" (Kurt Tucholsky) spürbar machen. Das Hoffen galt dem Neuen, das über die Hügel kam, aus den studentenbewegten Metropolen, aus den Meldungen einer weltweiten Jugendrevolte, aus den Pop-Musik-Sendern von AFN und Radio Luxemburg. Der Ansturm gegen die Heimat-Blockade der Kleinstadtpatriarchen hatte begonnen. Ein großer Teil der Kleinstadtjugend lief Sturm gegen die konservative Moral und Heuchelei der Kleinstadtöffentlichkeit, wie sie so treffend in frühen Degenhard-Liedern ausgedrückt ist. Viele Kleinstädte erlebten damals ihre erste Nachkriegsdemonstration, die das repressive Vorgehen der Schuldirektionen gegen go-ins, Unterrichtsboykotte oder Verweigerungen, am Sportunterricht teilzunehmen, ausgelöst hatten. Eine rote Fahne auf dem lokalen Kriegerdenkmal hatte eine regelrechte Volksrevolte ausgelöst und den Druck auf die Abweichler massiv erhöht.

Die rebellierende Kleinstadtjugend hielt dagegen und richtete sich auf eine längere Auseinandersetzung ein: In den Kleinstädten wurde kleine Läden als Treffpunkte und Diskussionsraum angemietet, die ersten Wohngemeinschaften von Schülern in der Provinz gegründet und in der Tradition der republikanischen Clubs entstanden in ehemaligen Sportvereinsheimen die ersten Jugendclubs. Eine neue kulturelle Infrastruktur bildete sich innerhalb der Kleinstädte heraus. Die schlechte Versorgung mit aktueller linker Literatur und das Fehlen von Druckmöglichkeiten vor Ort machte eine enge Zusammenarbeit mit den nächstgelegenen Universitätsstädten notwendig.

Neben der politischen Jugendbewegung, gab es parallel dazu auch eine weniger politische, "pop-kulturelle Jugendbewegung" in den Kleinstädten. Deren neues Zentrum war die Disco, ihre Gespräche drehten sich in der Hauptsache um die neuesten Hits in den Charts und die fetzigsten Klamotten. Zwischen beiden Jugendbewegungen gab es fließende Übergänge, z.B. bei der Verehrung der Kultsendung "Beat-Club" im Fernsehen, beim Stöbern in der dem lokalen Elektrogeschäft angegliederten Pop-Schallplatten-Abteilung, oder auch bei der damals weitverbreiteten Manie, alle Sendungen mit dem damals hochmodernen Großcasettenrecorder aufzuzeichnen. Die Kleinstadtgeschäftswelt stellte sich langsam auf diese neue Käuferschicht ein: Die Elektrogeschäfte erweiterten ihre HiFi-Abteilung. Der eher konservative Buchladen bestellte nun auch die so begehrten Bände von Suhrkamp und rororo-aktuell, wenn er sie auch nicht öffentlich anbot. Die sich besonders progressiv-gebärdende Sparkasse, die mit ihren Flachdach-Hochhaus die inkorporierte Moderne in der Kleinstadt vertrat, sponserte Nachwuchsfestivals für die überall aus dem Provinzboden sprießenden Rockbands. Und auch das altehrwürdige Kino gab einmal im Monat "Programmkino" und zeigte dort durch die VHS-subventionierte und über einen progressiven Lehrer ausgewählte Zeitgeist-Filme, wie z.B. "Viva Maria", "Sacco & Vancetti" oder den berühmten "Woodstock-Festival"-Film. Innerhalb der Kleinstädte bildeten sich durch die häufige Jugendfrequentierung spezielle "Scene-Kneipen" heraus, entstanden Freizeit-Kicker-Mannschaften, entwickelte sich eine neue Festivalkultur, die in alten Turnhallen neue Polit-Rock-Musik mit Ton-Steine-Scherben, Cochise, Schroedter-Roadshow, Schwoisfuaß etc., bot.

Mit dem Versiegen der Studentenbewegung in den Metropolen, besann sich die kleinstädtische Jugendbewegung zunehmend auf sich selbst, wurde zu einer Provinzbewegung, und orientierte sich immer mehr am eigenen Raum. Praktisch sah das so aus, daß ab Mitte der 1970er Jahre die eigene Kleinstadtgeschichte in der NS-Zeit über Zeitzeugen und Bildern ausgegraben wurde. Kontakte zu den alten politischen Abweichlern früherer Epochen (KPDler, SPDler, Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Wiederaufrüstungsgegner etc.) wurden (auf)gesucht, um deren Kleinstadt-Widerstands-Geschichte kennenzulernen. Auf der Kleinstadtebene wurden zunehmend kritische Fragen zur Ökologie und Stadtplanung gestellt und das Engagement in lokalen Bürgerinitiativen verstärkt  In vielen Kleinstädten entstanden Ende der 1970er Jahre kritische lokale und regionale Provinzzeitschriften, die auch von Seiten der Alternativbewegung her den neuen Weg der Kleinstadt, hin zur "Wiederentdeckung der Provinz" in den 1980er Jahren vorbereiteten.

Aus: PRO-REGIO-ONLINE-Redaktion (Albert Herrenknecht / Jürgen Wohlfarth): Kleinstadtbilder aus den 1960er - 1970er Jahren. Die “Verstädterungsphase” der Kleinstadt. In: Kleinstadt-Bilder. Kleine Sozialgeschichte der ländlichen Kleinstadt 1945-2000. Seite 48 - 52. Boxberg 2004 http://www.pro-regio-online.de/downloads/klein1.pdf
http://www.pro-regio-online.de/html/heft_2_-_2004.html

 

KLEINSTADT 1968

- POLITISCHE JUGENDBEWEGUNG

 

In der Zeitschrift PRO-REGIO-ONLINE Nr. 5 - 2008 wird zum 40jährigen Jubiläum der 1968er Ereignisse besonders auf die Situation der Kleinstadt 1968 eingegangen, mit der Schülerbewegung in den Kleinstädten, der Jugendhausbewegung, den politisierten Jugendbewegungen von 1967-1977, die besonders auch auf den tauber-fränkischen Bewegungen basierten:
Kleinstadt 1968 - Politische Jugendbewegungen 1967 - 1977 in der Provinz
www.pro-regio-online.de
http://www.pro-regio-online.de/html/heft_5_-_2008.html

„Kleinstadt 1968“ – „1968 in der Provinz?“ War da überhaupt was? Ja, da war etwas. Mancherorts sogar ein richtiger kleiner Aufstand von Teilen der Kleinstadtjugend. 1968 fand auch in den echten (ländlichen) Kleinstädten statt

Es gibt nur einen wesentlichen Unterschied zur 1968er Bewegung in den Metropolen: die Jugendrevolte in den Kleinstädten war keine Studentenangelegenheit, sondern ging anfangs von den Oberschülern und später auch von den Lehrlingen aus. Es war eine Jugendrevolte, die Mitten aus der Kleinstadtgesellschaft heraus kam, und deshalb die Kleinstadthonoratioren so unerwartet und schmerzhaft traf. Was hier rebellierte waren nicht ‚aufgehetzte Studenten’, sondern Provinzjugendliche, die die große Schere zwischen dem Schein und Sein der noch in großen Teilen undemokratischen Gesellschaft der 1968-Zeit anprangerten, denn die klaren Ansagen der damals Herrschenden waren eindeutig: „Die Schule ist keine Demokratie“ und die „Demokratie endet vor den Fabriktoren“.

Aber nicht nur dieser Widerspruch empörte, sondern auch der wie ein „Alp auf den Häuptern“ (Karl Marx) liegende Mief und Muff der 50er und frühen 60er Jahre, die provinzielle Stickigkeit, die die Kleinstädte in dieser Zeit auszeichnete. Ohne dieses besondere Klima der erz-provinziellen 50er Jahre wäre der Ausbruch der Jugendrevolte Ende der 60er Jahre nicht denkbar gewesen. Hier hatte sich eine mächtige Sehnsucht aufgestaut, die auf Entladung wartete. Das dann 1968 entflammte Unbehagen fiel also im völlig ausgetrockneten Provinzleben auf einen wohl-bereiteten Boden und konnte sich deshalb so sehr schnell entzünden. Etwas Revolutionäres lag seit Mitte der 60er Jahre in der Luft – wie der damalige Soundtrack der Revolte: „Something in the air“ (Thunderclap Newman) verkündete – die Zeit war reif, den Kleinstadtmief und Gesellschaftsmuff, die Plüschatmosphäre der Kleinstadtspießergesellschaft, durcheinander zu wirbeln. Die eigene Jugendphase fiel mit einer „Jugendphase der Geschichte“ (Ernst Bloch) zusammen und wuchs gerade in der ausgedorrten Provinz zu einem Sehnen nach einer neuen Zeit an, denn: „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ (Victor Hugo)

„Kleinstadt 1968“ – Worüber reden wir unter diesem Stichwort? Natürlich hatte das Jahr 1968 in den Kleinstädten nicht auf genau dieses Datum hin ausgerichtet die gleiche zentrale geschichtliche Bedeutung wie in den Großstädten der damaligen Zeit. In der Provinz war 1968 vielerorts erst der Startpunkt einer Schülerrevolte und keineswegs bereits der Höhepunkt einer Bewegung. Hier greift die provinz-bekannte Zeitverschiebung, dass es eine Zeit braucht, bis Großstadtereignisse in der Kleinstadt ankommen, was einige politische Provinzler gerne dazu veranlasste, von sich selbst als den „1969ern in der Provinz“ – also ironischerweise von der ‚wieder etwas verspäteten Generation’ zu sprechen. Ironisch deshalb, weil in diesem Fall  die Übertragung auf die Provinzstädte in relativ rasantem Tempo geschah, so dass ab 1969 bereits viele Kleinstädte nah dran waren oder bereits mittendrin in der Schüler- und Studentenbewegung steckten.

 

 

KLEINSTADT der 1970er Jahre

- POLITISCHE JUGENDBEWEGUNG

Albert Herrenknecht: Strukturanalyse der Kleinstadt - Das Kleinstadtbild der politischen Jugendbewegungen der 1960er und 1970er Jahre am Beispiel Wertheim              
Ein selbstkritischer Rückbild auf das Kleinstadtbild der politischen Jugendlichen und den Versuchen einer Kleinstadtanalyse in den 1970er Jahren: PRO-REGIO-ONLINE ZeitSchrift Nr. 6-2009: http://www.pro-regio-online.de/html/heft_6_-_2009.html

Eine “jugendkulturell geprägte Kleinstadt-Analyse“ zeichnet Albert Herrenknecht unter dem Titel: „Strukturanalyse einer Kleinstadt“ (durchaus selbstkritisch) nach. Die besondere Leistung dieser „Kleinstadt-Analyse“ besteht darin, dass sie - mangels geeigneter vorhandener Theorie- Ansätze zu einem politischen Verständnis der Kleinstadt – quasi aus dem Stand und eigenen Erfahrungsstand der damaligen Akteure heraus angedacht und entwickelt wurde. Sie ist daher nicht nur als eine neue „jugend-kritische Sicht auf die Kleinstadt“ dieser Jahre zu sehen, sondern durchaus auch als ein wichtiger Emanzipationsschritt der Provinz(ler) gegenüber den vorherrschenden urbanen Standpunkten zu deuten, da hierhin erste Schritte unternommen wurden, die Eigengesetzlichkeit der Provinz und der Kleinstädte im ländlichen Raum in ihrer Besonderheit zu analysieren, um mit diesem Wissen konkrete politische Schritte und Aktionen auf eben dieser besonderen Kleinstadtebene einzuleiten zu können.

 

VON DER POLITISCHEN JUGENDBEWEGUNG ZUR LÄNDLICHEN SOZIOKULTUR

 

Die politisierten Jugendbewegungen konnten sich in unserer Region von 1969 bis 1984 etablieren, wenn auch in unterschiedlichen Zusammensetzungen und Intensitäten. Starken Aktivitäten folgten lange Leerlaufphasen, vielfach konnte sich auch nur ein kurzes Strohfeuer in den Kleinstädten entwickeln. 1984 war für den Traum-a-land-Zusammenhang das Ende als Fokus der politisierten Jugendbewegung eingetroffen. Das sechste und letzte Provinztreffen in Wertheim symbolisierte das Aufkommen neuer Jugendgenerationen, das Ende der Veranstaltungs- und Festeformen der Traum-a-land-Kultur und den Übergang von Traum-a-land zu einer (kleinen) Organisation der Erwachsenenbildung. 1984 wurde auch die letzte Spurensicherung einer Jugendgruppe organisiert. 15 Jahre politisierte Jugendbewegung(en) in der Provinz sind dennoch eine kaum glaubliche Erfolgsgeschichte einer Provinz verändernden Jugendgeneration.

Von der politisierten Jugendbewegung in der Provinz, die oft mißverstandene kritisch-aktive Be-Heimatungskultur, führt ein (roter) Faden zur sozio-kulturellen Öffnung, Erweiterung und Modernisierung der ländlichen Kleinstädte und der ländlichen Regionen:

Die „Gegen-Kultur-Phase“ (Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre)

Gegen-Kulturelle Bewegungen, inspiriert durch die städtische Studentenbewegung und globale Jugendproteste gründen in den Kleinstädten nach städtischem Vorbild Clubs und aufgrund fehlender Freizeit- und Betätigungsmöglichkeiten vorort Jugendzentrumsinitiativen.

Die „Alternativ-Kultur-Phase“ (70er Jahre)

Die Jugendzentrumsinitiativen breiten sich flächendeckend aus. In Baden-Württemberg existieren Mitte der 70er Jahren 300 Initiativen und Jugendzentren. Die Jugendzentren werden immer mehr zu „kulturellen Provinzzentren“ und damit zu dem kulturellen Treff der politischen Gegen-Öffentlichkeit in den Kleinstädten.

Die Ausweitung der Jugendzentrumsbewegung auf's Land bringt auch in einigen Dörfern Jugendtreffs und Jugendclubs, die nach anfänglich guten Ansätzen der Jugendkulturarbeit (im Kontext der regional-organisierten Jugendzentrumsbewegung) allerdings sehr bald durch die dörfliche Vereinskultur reintegriert wurden.

Die „Provinzarbeit-Phase“ (Mitte der 70er und Anfang der 80er Jahre)

Durch das Aufkommen der Bürgerinitiativen-Bewegung (hauptsächlich der Anti-AKW-Bewegung [im Main-Tauber-Kreis durch die Bewegung gegen die Daimler-Benz-Teststrecke Boxberg; Hinweis 2007]) und durch einen einsetzenden „Re-Provinzialisierungsprozeß der Jugendzentrumsbewegung“ fällt der Blick der politisch-kulturellen Provinzinitiativen verstärkt auf's Land, in die Region. Unter dem Motto: „Macht die Provinz bunt und lebendig“ gründen sich bundesweit Provinz-Initiativen. Ihr Betätigungsfeld ist: Herausgabe von alternativen Provinzzeitungen, Gründung von alternativen Kulturvereinen, Organisierung von jugendkulturellen Alternativangeboten, kommunalpolitisches Engagement (Alternative Listen), Regionale Vernetzung von Kultur- und Öko-Pax-Initiativen.

Parallel entstehen Initiativen der Neuen Heimatdicher, Neuen Liedmacher, Geschichtswerkstätten, die versuchen, eine „neue Provinzkultur von Unten“ zu initiieren (Altrnative Heimat-Kunde, Spurensicherung, Verdrängte Regionalgeschichte).

Neben den Provinzarbeit-Initiativen entstehen in dieser Zeit weitere Einrichtungen der provinziellen Kultur-Scene wie Tagungshäuser auf dem Land, Wohngruppen in den Dörfern, Wohngemeinschaften auf dem Bauernhof, Programm-Kinos in den Kleinstädten, Alternativ-Kneipen, Gegen-Ökonomie-Projekte, etc., die ein wichtiges sozio-kulturelles Umfeld bilden.

In den Kleinstädten erwacht die Kulturscene und organisiert ihre „neuen Kulturbedürfnisse“ in Kultur- und Kunstvereinen (Lesungen, Ausstellungen, Konzerte, Filmvorführungen).

Die „Kultur (und/statt)Politik-Phase (Mitte der 80er und 90er Jahre)

Aus den Provinzarbeit-Initiativen konstituieren sich „alternative Kulturvereine“, die ein kulturpolitisches (Kultur und Politik verbindendes) Programm anbieten. Sie übernehmen ein Teil des Erbes der Jugendzentrumsbewegung und werden zu den neuen (teilweise mobilen, weil ohne eigene Räume) sozio-kulturellen Zentren in der Provinz.

Gleichzeitig mit diesen Vereinen wächst die sozio-kulturelle Nachrüstung der Provinz: Eröffnung von Kommunikationskneipen, Theatergruppen auf dem Land, Open-Air-Festival-Bewegung auf den Dörfern, Reaktivierung von Programm-Kinos in der Provinz, Selbstorganisationsprozesse in der Rock-Scene, Versuche neuer Bauernkultur.

In den Kleinstädten verfeinert sich gleichzeitig der Kunstgeschmack, neue Kultur- und Kunstvereine entstehen, die dem „Ästhetik- und Betätigungsbedürfnis des neuen Mittelstandes“ nachkommen.

Als neue kulturelle und politische Gruppe melden sich Frauen zu Wort und gründen Frauengruppen, Frauenzentren, Frauencafes.

Sozio-Kulturelle Elemente finden immer breiteren Eingang in die Kulturarbeit der Kommunen, Verbände und Vereine. Kultur-Mobile kommen auf die Dörfer, Kinderkulturwochen, Kinderferienprogramme greifen Momente der Aktionskultur auf; Altstadtfeste bekommen eine Jugendkultur-Ecke und kein Jahrmarkt kommt mehr ohne Jugendprogramm-Angebot aus. ...

Aus: Albert Herrenknecht / Jürgen Wohlfarth: Auf dem Weg in die Provinz-Moderne. Sozio-kulturelle Wandlungen innerhalb ländlicher Regionen. In: Pro Regio Nr. 9, Seite 4 -  10, Boxberg 1991. Neu abgedruckt in: Pro-Regio-Online ZeitSchrift für den Ländlichen Raum Heft Nr. 4 - 2007 “Die Kleinstadt auf dem Weg in die Moderne - HinterLand Pro-Regio-Online-Dokumentation “Kleine Rezeptionsgeschichte der Sozio-Kulturellen Modernisierung der ländlichen Kleinstadt von den 1980er Jahren bis heute”:
http://www.pro-regio-online.de/html/heft_4_-_2007.html
http://www.pro-regio-online.de/downloads/kleinmoderne.pdf

Ebenfalls in: Eigenständige Regionalentwicklung Baden-Württemberg e. V. (Hg.): Wandlungen innerhalb der ländlichen Sozio-Kultur-Landschaft. Neue Kulturbewegungen und kulturelle Bedarfsansprüche in ländlichen Regionen, Bad Waldsee 1991. Auch als Pro Provincia Studie Nr. 1, Boxberg 1995 veröffentlicht:
http://www.pro-provincia.de/html/publikationen3.html

 

Mehr zur politischen Jugendbewegung: Politische Jugendbewegungen 1969-1984

 

 

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