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RÄTEBEWEGUNG 1918/19
Bauernräte 1918 Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- und Bürgerräte auf dem Land? In den Bezirken Boxberg und Adelsheim, aber auch in Buchen, Mosbach, Tauberbischofsheim? Hat unsere Region vielleicht auch eine jüngere revolutionäre Vergangenheit, über die bisher völlig geschwiegen wurde? Tatsache ist, dass über die November-Revolution 1918/19 und ihre Auswirkung auf unsere Region sehr wenig bekannt ist, obwohl es darüber im wissenschaftlichen Bereich einige Hinweise (1) und Veröffentlichungen (2) gibt. Um den Hintergrund der Räte in den Amtsbezirken Boxberg und Adelsheim (die hier genauer beleuchtet werden), zu verstehen, müssen wir uns das Stimmungsbild der damaligen Zeit erst einmal klar machen.
Der Bezirk Boxberg ist überwiegend Landwirtschaftsregion und gilt wie der Bezirk Adelsheim als „Getreidekammer“ des Großherzogtums Baden. Während der Bezirk Boxberg neben Kleinhandwerk beinahe ausschließlich Agrarregion ist, existieren im Bezirk Adelsheim ein bürgerlicher Mittelstand, ein gut entwickeltes Handwerk und die Anfänge einer Arbeiterbewegung (in den Betrieben: Stempelfabrik und Druckerei Richard-Veith, Adelsheim; Gipswerk Seckach und Kunstwollfabrik Ruchsen). Außerlandwirtschaftliche Arbeitsplätze existierten hauptsächlich im Bauhandwerk und bei der Bahn (Osterburken, Seckach, Wölchingen). Die landwirtschaftlichen Flächen waren aufgrund der Realerbteilung klein und betrugen im Durchschnitt 5,19 h. Beide Regionen waren Abwanderungsgebiete, wobei das Hauptziel die expandierende Industriestadt Mannheim war. Die einseitige Wirtschaftsstruktur der Bezirke verknüpfte sie sehr eng mit dem Geschehen auf den Kriegsschauplätzen, denn durch die Zwangsbewirtschaftung der Landwirtschaft (Lebensmittelabgabe, Kontrolle der Betriebe) existierte ein direkter Verbindungsstrang. Das Hineinregieren in die Höfe und die penibel ausgeführten Vorschriften wurmte viele Bauern, die doch bei aller wirtschaftlichen Bescheidenheit ein „freier Bauer“ sein wollten und sich nicht Abgabenmengen und Preise diktieren lassen wollten. Durch diese Zwangsbewirtschaftung existierte eine Art Spannungsbogen von der Front zum Hinterland, der durch Opfer, zusätzliche Anstrengungen (Kriegsanleihe, erhöhte Abgaben usw.) immer stärker belastet wurde und der im Moment der Bekanntgabe des Waffenstillstandwillens und der damit eingestandenen Niederlage des I. Weltkrieges in Enttäuschung, dem Verdacht eines bitteren Betruges und Verrates, ausdrückte. Vor allem die Tatsache, dass trotz breiter Kriegsmüdigkeit und aussichtsloser militärischer Lage weiter gekämpft wurde und noch mehr Opfer von der Bevölkerung gefordert wurden, löste eine Welle von Empörung aus. Die kriegsbedingte schlechte Wirtschaftslage auch in den beiden Hinterland-Bezirken löste 1918 sozialen Protest aus. Auch im Bauland war ein Regierungswechsel von der Monarchie hin zur Republik eingetreten, wobei die Räte das Instrument dieses Überganges darstellten.
Als am 9. November 1918 in den Metropolen die „November-Revolution“ begann, war dies auch ein Zeichen für das Hinterland, sich nun zu dieser neuen Zeit zu verhalten. Es dauerte bis zum 22.11.1918 bis sich auch in der Provinz etwas regte: an diesem Tag wurde in Adelsheim im Saal des Gasthauses „Linde“ der Orts-, Bürger-, Bauern- und Arbeiterrat Adelsheim gegründet. Tags darauf die Räte für den Bezirk gewählt. Vorausgegangen waren heiße Debatten über die Zusammensetzung der Räte: Die ursprüngliche Initiative ging vom „Club Bauländer Landwirte“ in Osterburken aus, die angesichts des Machtvakuums Räte als Interessensvertretungsorgane aufstellen wollten. Ziel der Räte sollte es sein: Die landwirtschaftlichen Betriebe zu schützen, den Durchzug vom rückkehrenden politisierten Heer zu überwachen und eine geregelte Lebensmittelablieferung zu garantieren, damit nicht die Städter aufs Land kämen, um sich ihre Lebensmittel selbst zu holen. Gleichzeitig sollte dieser Bauernrat ein Bollwerk gegen das Eindringen der SPD und der Gewerkschaftsbewegung aufs Land sein, was dem alten Feindbild der Bauern („Angst vor der roten Stadt“) entsprach. Der Bauernrat bestand zum Großteil aus den Gutpächtern, deren Wunsch hauptsächlich in der Schaffung einer Ordnungsmacht bestand. Allerdings gelang es diese nur im Konsens mit dem Mittelstand („Bürgerrat“) und auch zwei Vertretern der Arbeiterschaft („Arbeiterrat“) im Bezirk Adelsheim herzustellen. Anders war die Lage im Bezirk Boxberg. Dort gelang es einen Bauernrat mit Monopolstellung zu etablieren. Bedingt durch die Mehrheit der Bauernwirtschaft vertrat dieser Bauernrat die Interessen der anderen unterrepräsentierten sozialen Gruppen mit. Die Ziele des Bauernrates im Bezirk Boxberg glichen denen in Adelsheim:
Über diese Defensivfunktionen hinaus plädierten die beiden SPD-Pfarrer Fehn (Unterschüpf) und der „christliche Sozialist“ Theodor Steltz (Neunstetten) für die „Aufklärungsfunktion“ der Räte als Instrumente für eine weitere Demokratisierung der Republik. Fehn wurde 1919 als Vertreter der links-liberalen DDP (Deutsche Demokratische Partei) Mitglied des Landtages. Steltz bewirkte durch seine Bekanntheit und seinen Einfluß zumindest in Neunkirchen, Wöchingen und Sennfeld einen konstanten Stimmanteil für die SPD.
Die Rätebewegung dauerte nur bis 19. August 1919. An diesem Tag beschloss die 6. Landesversammlung der Badischen Räte ihre Selbstauflösung. Was war dem vorausgegangen? Zum einen gab es einen inneren Widerspruch in den Bauernräten, der sie immer mehr vom Volk isolierte und politisch verselbständigte: für viele Bauern erschien die Lebensmittelabgabe-Vorschrift und peinliche Kontrolle (Anwesenheit von Räte-Mitgliedern auf dem Hof) lediglich die Fortsetzung der Kriegswirtschaft und Zwangsbewirtschaftung. Für die Landwirte schien sich nichts – lediglich das Vorzeichen – verändert zu haben, während die neue Republik mit 8-Stunden-Tag etc. für die Arbeiterbewegung sichtbare Fortschritte brachte. Insofern erlosch das Interesse an Räten als Gesamtvertretungen und wuchs das Interesse an einer konsequenten Standesvertretung, damit die Interessen der bäuerlichen Bevölkerung nicht zu kurz kämen. Wichtigste Forderungen der Bauern waren das Koalitionsrecht, d. h. das Recht sich in einer Landvolk-Gewerkschaft zusammenzuschließen. Politisch mündete diese Vorstellung in die Landbund-Bewegung 1919/20, die als politische Partei in den Bezirken hohe Stimmgewinne erzielte. Führer dieser Landbund-Bewegung waren der Bürgermeister von Sachsenflur, Hertle und der Lagerhausverwalter von Wölchingen, Hopf. Politisch war diese Bewegung vielschichtig, aber deutlich bäuerlich-konservativ, rechtstendierend. Zum anderen wurden die Räte von Oben (von der Badischen Landesregierung) ausgetrocknet, idem ihnen immer mehr Kompetenzen beschnitten wurden und ihre Legitimität (am Beispiel der Nicht-Abstempelung von Rats-Ausweisen wird dies deutlich) bestritten wurde. Als diese „Austrocknungs-Strategie“ sichtbar wurde, begann die Flucht in die politischen Parteien, um darüber weiterhin an der politischen Macht beteiligt zu sein. Die Räte als Notorganisation fielen in divergierende Interessen und Richtungen auseinander. Insofern waren sie zumindest in diesen ländlichen Regionen Übergangsformen, Überbrückungsorgane über ein politisches Vakuum und keine radikalen Revolutionsräte (Betriebsbesetzungen, Landarbeiterräte etc.). Die linken Räte innerhalb der ländlichen Räte waren völlig unterrepräsentiert: 2 Arbeiter, 2 Pfarrer und Mitglieder der zu Schutzfunktionen degradierten Soldatenräte. Die Alltagsprobleme (Überlebenskampf, Verhinderungen von Plünderungen durch hungernde Städter, Steuergesetzgebung für die Landwirtschaft, Reparationen durch Versailler Vertrag, schleichende Inflation etc.) aber auch die schnelle Besetzung der politischen Positionen durch das Bürgertum, sowie die Schwäche der sozialen Bewegung im Hinterland, boten den progressiven Kräften keine Entfaltungsmöglichkeit. Die Delegierung des links-liberalen Pfarrers Fehn aus Unterschüpf in den Landtag (1919/20) kann deshalb schon als relativer Erfolg angesehen werden, wobei seine Wahl nicht unbedingt Ausdruck seiner politischen Position, sondern eher seiner Persönlichkeit war. – Ein Problem, das die politische Arbeit in der Provinz immer noch bestimmt.
Aus: Bauernräte 1918 - Ländlicher Raum zwischen Monarchie und Republik. Die Rätebewegung in den badischen Amtsbezirken Adelsheim und Boxberg. In: TRAUM-A-LAND Nr. 29 Jan. / Feb. 1983 Schwerpunkt: Unsere vergessene Geschichte, S. 21 - 23
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